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DER STANDARD, 17. Oktober 2000


Leben in einer verkehrten Welt


Martina Salomon

Vor acht Jahren hatte Thomas Stölzl ein einschneidendes Erlebnis. Als der Grazer Musiklehrer für einen linkshändigen Schüler das Schlagzeug "verkehrt herum" aufstellte, bemerkte er plötzlich, dass er damit auch selbst viel besser zurecht kam. Seither trommelt er "mit links". Die Nervenentzündung, unter der er an beiden Händen litt, verschwand. Dabei hatte er davor ohnehin mehr Glück gehabt als andere Linkshänder: Immerhin zwang ihn in der Schule niemand mehr dazu, "richtig", nämlich rechts zu schreiben. Etwas, das in der Vergangenheit gang und gäbe war und bisher völlig unterschätzte Folgen für die Betroffenen hat, wie die deutsche Psychologin Johanna Barbara Sattler festgestellt hat. Wer mit seiner "nicht dominanten" Hand schreiben muss, überlastet das Gehirn - was sich unter anderem in Konzentrationsstörungen, legasthenischen Problemen sowie feinmotorischen Störungen (Schriftbild!) äußert, berichtet sie in "Der umgeschulte Linkshänder" (Auer-Verlag, 1996).

Meist ist die Schullaufbahn solcher Menschen durch Brüche gekennzeichnet. Manche meinen sogar, dass ein überdurchschnittlich hoher Anteil an Patienten in psychotherapeutischen Praxen umgeschulte Linkshänder sind.

Frühere wissenschaftliche Untersuchungen ergaben, dass Linkshänder gefährdet sind, früher zu sterben. Für Ernst Berger, Chef der neuropsychiatrischen Abteilung für Kinder und Jugendliche im Krankenhaus Rosenhügel, eine plausible Hypothese: "Wenn man bedenkt, dass alle Nothaltegriffe nur mit der rechten Hand erwischt werden können . . ." Eine neuere britische Untersuchung bestätigt das höhere Sterberisiko allerdings nicht mehr.

Vorbild . . .

Geht man von Sattlers Thesen aus, sind viele vermeintliche Rechtshänder in Wirklichkeit gar keine. Denn es ist nicht nur äußere Gewalt, die Schüler zwingt, rechts zu schreiben. Oft bleibt die Linkshändigkeit unentdeckt, weil sich das Kind an die rechtshändige Gesellschaft durch Nachahmung und Erziehung ("Gib die schöne Hand") anpasst - aber einige Tätigkeiten doch "mit links" macht. Viele Eltern, aber auch Wissenschafter glauben daher an eine "Beidhändigkeit". Ein Riesenirrtum, wie Sattler meint. Man werde als Rechts-oder als Linkshänder geboren. Mit Sicherheit ist die Zahl der Linkshänder weit größer als angenommen. Während offizielle Statistiken von acht bis 15 Prozent ausgehen, glaubt die Expertin, dass jeder zweite Mensch linkshändig sein könnte. Thesen, die Musiklehrer Stölzl in seiner Arbeit mit Schülern nur bestätigen kann. Doch die Reaktionen jener Eltern, die er auf die mögliche Linkshändigkeit ihrer Kinder aufmerksam machte, seien "erschreckend" gewesen, erzählt Stölzl dem STANDARD. 1998 schrieb er (ohne Erfolg) an das damalige Unterrichtsministerium, dass - zumindest bei der Einschulung - der "Händigkeit" von Kindern viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. "Das ist im Moment kein Thema", bestätigt Beratungslehrerin Magdalena Klein-Strasser. Hilfe gebe es vor allem für aggressive, "störende" Kinder, doch kaum für unkonzentrierte Träumer.

Was rät Neuropsychiater Berger, wenn Kinder "beidhändig" erscheinen? Das könnte an einer "minimalen zerebralen Dysfunktion" liegen, sagt er. Oft werde keine eindeutige Bevorzugung einer Hand ausgebildet. Manches wird mit rechts, manches mit links gemacht, insgesamt haben diese Kinder Koordinationsprobleme und motorische Störungen. Ergotherapie sei hier hilfreich.

. . . oder Genetik?

Woher prinzipiell die Präferenz für eine Hand kommt - Genetik oder gesellschaftliche Bedingungen - liegt nach wie vor im Dunkeln. Einiges spricht dafür, dass linkshändige Eltern häufiger linkshändige Kinder haben.

In Deutschland hat sich mittlerweile eine Bewegung gebildet, die die Rückschulung umgelernter Linkshänder auf die dominante Hand propagiert. Auch im deutschen "Linkshänder-Magazin" ist das ein großes Thema (http://lefthandcorner.wtal.de). Die Erfahrungsberichte sind unterschiedlich: von sehr guten Erfolgen bis Verschlechterungen. Sattlers Münchner "Beratungs- und Informationsstelle für Linkshänder und umgeschulte Linkshänder" (E-Mail: info@sinErgo.com) ist dafür die erfahrenste Anlaufstelle. Wie können Linkshänder "enttarnt" werden? Unter www.linkshaenderseite.de sind einige klassische Tätigkeiten angeführt. Besonders aussagekräftig sind demnach etwa Würfeln, Zähneputzen, Lichtschalterbenutzen, Kämmen oder Hämmern.

Amerikanische Präsidenten sind jedenfalls signifikant häufig Linkshänder: Bill Clinton, Gerald Ford, George Bush, Ronald Reagan, Harry Truman. Doch eines ist gewiss: Der nächste US-Präsident ist - gleichgültig wer gewinnt - Rechtshänder.


© DER STANDARD, 17. Oktober 2000
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